Tango And More? --- No. More Tango!
1. Reise und das erste Pils
Ja, es gibt technischen Fortschritt in dieser Welt; wesentlichen sogar: Zumindest in Flughäfen ist die Geschwindigkeit des Handlaufes mit der Rolltreppe oder dem Laufband seit einiger Zeit perfekt synchronisiert!
Es hatte ja Jahre des sich Wunderns gebraucht, bis wir irgendwann erfuhren, der Tempounterschied hinge von der Belastung der Treppe ab - dementsprechend unvermeidlich, Pigor und Eichhorn schrieben ein ganzes Stück darüber....und nun? -- Passè. Wie die Chromdioxyd C-90er, oder der Nabenreiniger - kommende Generationen werden es nicht mehr verstehen können. Andere Bereiche des Fortschritts erleben wir natürlich bei der Sicherheitskontrolle: Hier werde ich nicht unbedingt sentimental, empfinde es sogar als relativ angenehm, daß es nicht mehr ganz so einfach ist, Uran, Panzerfäuste oder ungebührlich viele Zigaretten zum Zwecke des Mißbrauchs ins Flugzeug zu schmuggeln. Ich gebe beim Check ohne zu mosern meinen etwa 12 cm langen Schraubenzieher ab, der sich noch im Seitenfach meiner Stocktasche befand. Daß die wesentlich gefährlicheren Gegenstände in dieser Tasche, nämlich Spitzfeilen, Stricknadeln und angespitzte Stöcke lediglich aufgrund meiner Erklärung, es handele sich um Gerätschaft zur Klangerzeugung, unbeanstandet bleiben, verwundert, ist aber praktisch. Die Wiederbeschaffung hätte mich in Buenos Aires glatt einen Tag gekostet.
Als ich dann aber im Iberia Flieger zum Dinner (so wird es euphemistisch in der Service Beschreibung genannt) eine ca. 16cm lange Gabel und ein ca. 18cm langes Messer aus Edelstahl vorgelegt bekomme, weicht die Verwunderung echtem Staunen. Ich kann es mir nur so erklären, daß mein Schraubenzieher etwas gammelig war, dieses Besteck aber garantiert rostfrei ist: Ich denke, es geht um die Vermeidung von Blutvergiftung bei nicht vollständig getöteten Terroropfern.
Nun aber zu schöneren Dingen: Der Empfang am Flughafen ist traditionell mit kaltem Bier unterfüttert, welches diesmal vom Kommittee, bestehend aus Santi und Nahuel, gereicht wird. Nun gut, es ist neun Uhr morgens .... aber Tradition verpflichtet. Die Fahrt mit dem Auto vom Flughafen in die große Stadt dauert etwa eine Stunde und auf halber Strecke schaltet Santi das Radio ein. Natürlich läuft Tango. Erst ein älteres Stück, dann ein etwas neueres (für mich halbwissenden am Gebrauch eines Schlagzeugs zu erkennen), dann ist es kurz vor der vollen Stunde und vor den Nachrichten kommt der Jingle der Station: Die ersten 16 Takte von "Barceluna"! (ein Stück von der zweiten CD der Buben)! Mir schwant, daß ich nicht mehr mit den Straßenjungs vom Ferrara Festival zu tun habe, sondern daß sich hier in den vergangenen drei Jahren mächtig was getan hat. -- Dann erreichen wir die innere Stadt und mit einem lapidaren "Look right!" weist Nahuel mich auf eine Werbemaßnahme für das anstehende Konzert im ND Teatro hin. Das ist größenmäßig kein Plakat mehr, eher ein "Billboard", oder bei uns eine halbe Litfaßsäule.....unbezahlbar eigentlich -- oder da meint es eben jemand richtig ernst!
Nach Ankunft in Juans neuer Bleibe (jetzt ebenerdig mit riesiger Terrasse und ganz wichtig: großem Grill ;-) gibt es natürlich Bier, allerdings befinden wir uns bereits in einer Probe mit den neu einzuarbeitenden Geigern. Das Prozedere ist ähnlich dem vor drei Jahren (siehe Artikel "Tango - and more"), nur findet die Probe jetzt komplett draußen statt. Also mit Verstärkern, Schlagzeug etc. versteht sich. Und die Nachbarn? --- "Finden Tango geil", werde ich beruhigt. Immerhin wird ja nicht nachts um vier gespielt.
Das könnte sich allerdings schon morgen ändern, da ist nämlich Juans Geburtstag.....ich bin gespannt!
2. Soziophil, aber numerophob
(zwei Wörter, die übrigens dringend erfunden werden mußten)
Ich möchte Juans Geburtstagsparty zum Anlaß nehmen, über ein allgemeines Phänomen zu schreiben, das ich fast schon wieder vergessen hatte: Die Differenzen bei der Bieraufnahme.
Nein, Faßbier ist des Argentiniers nicht; in den meisten Kneipen und erst recht natürlich zu Hause kommt das Bier in der Flasche auf den Tisch, in der Regel in der sympathischen Einheit von einem Liter. Als Glas dient so ziemlich alles, was oben eine Öffnung hat und unten herum wasserdicht geschlossen ist, typische Merkmale, die bei uns ein "Bierglas" von normalem Trinkgefäß unterscheiden, sind hier zufällig. Auch die Größe ist völlig unterschiedlich, denn eine Normierung zum Zwecke gerechter Verteilung ist nicht nötig. Es wird nämlich jedes Glas etwa halb voll geschüttet und dabei bleibt es dann; wer auch immer sich nachschenkt, sieht zu, daß auch alle anderen Gläser wieder auf die anfängliche Füllmenge gebracht werden.
Das ist zum einen sehr familiär und verbindend, zum anderen fehlt jeglicher Gruppenzwang des "Mithaltens", oder schnell Trinkens. Im Kneipenumfeld lassen sich mit diesem System dazu noch unterschiedliche Einkommensverhältnisse sehr fein nivellieren. Wenn bei uns der wirtschaftlich Schwächere ein Bier, also eine definierte Portion, ausgegeben bekommt, hat das auch immer was von einem Gnadenakt; hier bin ich immer mittenmang, gehe aber im Notfall einfach etwas seltener zur Theke, um die neue Flasche zu kaufen. Zumindest für mich als Außenstehenden ist es so im Kneipenkontext wirklich schwer auszumachen, wie es um jemanden wirtschaftlich bestellt ist; da genügt in Deutschland selbst in fremder Umgebung schon recht kurze Beobachtung.
Aber diese Pilskultur hat auch einen Haken! Da das Glas eben immer halbvoll ist, dazu noch keiner Normgröße entspricht, verliert man nach kürzester Zeit den Überblick über die konsumierte Menge. Lediglich wenn auch mit Gewalt kein Bier mehr durch die Kehle will, ist über den Vergleich mit Erfahrungswerten wieder eine halbwegs verläßliche Standortbestimmung möglich. ......Zum Glück halte ich mich aus dieser ganzen Fernet Trinkerei raus; im hochprozentigen Bereich würde es für mich unter diesen Gepflogenheiten völlig unübersichtlich.
3. Rallentando, jetzt aber mal richtig
Schon bei der letzten Reise wurde ich ja schon mit des Tangeros liebstem Kind konfrontiert, dem Rallentando. Nun muß ich feststellen, daß meine damalige Lernkapazität gerade ausreichte, um dem Status eines ahnungslosen Gastmusikers gerecht zu werden. Dieses Mal ist die Sache schon ernster: Sowohl in Hinsicht auf die Tour, als auch vor allem auf das Konzert am Freitag, bei dem es für die Jungens um sehr viel geht, wird die Meßlatte nun deutlich höher gelegt. In der heutigen Probe ging es z.B. etwa eine halbe Stunde lang um vier Takte in "Barceluna", ein Stück, das ich schon so oft mitgespielt hatte, daß ich dachte, zumindest mal das wäre "safe".... ;-)
Weit gefehlt. Die Geheimnisse dieser gemeinsamen, aber nicht unbedingt gleichmäßigen Tempoänderungen erschließen sich mir nur schwer, zumal mir meistens drei bis vier Argentinier gleichzeitig (auf spanisch und englisch gemischt) ihre ganz individuelle Sicht erklären wollen. Erhellend sind dann die Erläuterungen von Juan, der mir recht technisch erklärt, wann ich auf wen zu hören habe. Irgendjemand führt nämlich immer diese Verzögerungen (in den seltensten Fällen Santi, der Percussionist), auf den es zu hören gilt. Hört man auf jemand anderen, bekommt man nur noch eine Art "second hand - Information", nach meinem Empfinden durchaus elegant aus der Affäre gezogen, für den echten Tangero --- unduldbar!
Mit dieser Kenntnis komme ich dann auch schon ein Stück weiter, aber trotzdem kann ich selbst diese Führungsrolle nicht immer erkennen, zumal sie mitunter auch innerhalb einer Phrase wechselt....... auf jeden Fall sehr spannend.
Nicht ganz so glücklich bin ich mit den Ausführungen zur Dynamik. Hier habe ich nicht den Eindruck, etwas ganz neues stilspezifisches zu lernen; mir fällt dynamisches Spielen eigentlich nicht schwer, ich kann das nach Aufforderung auch alles bedienen, aber es ist nicht immer mein Geschmack. Mir fällt bei der Gelegenheit auf, daß dynamisches Spielen eine wesentliche Komponente von sogenannter Virtuosität ist, und da ist auch für mich die Grenze, wenn Dynamik hauptsächlich genau die herausstellen soll. (Oder zumindest es für mich so klingt.)
Das sind normalerweise Dinge, über die ich mit Juan bis in die Morgenstunden diskutieren kann (auch eine wesentliche Lernquelle, nicht nur das konkrete Proben), aber im Moment sind die Buben allesamt am Anschlag. Ein Radio Interview jagt das nächste; der Probeaufwand ist hoch, da außer mir noch ein kleines Streichensemble, ein Sprecher, ein Saxophonist und ein weiterer Percussionist eingearbeitet werden; vor allem aber stehen bereits die großen Touren für das nächste Jahr an, bzw. sind jetzt in der heißen Organisatiosphase. Schließlich aber merke ich, daß die Violentangeros auch intern gerde vor Entscheidungen stehen: Klar, der Aufhänger für das große Konzert am Freitag, wie auch für die Tour, ist das zehnjährige Bandjubiläum, aber für die Jungens geht es gerade richtig ernst um die Zukunft....da stehen nicht ganz einfache Entscheidungen an in Sachen Management, Prioritäten, etc.
Die Probleme, die sich dabei auftun, kommen mir sehr bekannt vor -- hier unterscheidet sich die Tango Kapelle kaum von irgendeiner Bandstruktur bei uns. Allerdings haben die Jungens bislang wesentlich mehr in die Sache investiert, als alle Bands, die ich bslang kennengelernt habe, und dabei meine ich nicht einmal vorrangig Geld....
4. Fernandez Fierro, zum zweiten
Die Einschlagswirkung dieser Band, im letzten Bericht ausführlich beschrieben, ist natürlich beim zweiten Mal nicht mehr so heftig; ich weiß ja in etwa, was mich erwartet, und in der Zwischenzeit habe ich auch etwas mehr von dieser Musik verstanden, so daß ich all dem nicht mehr ganz fassungslos gegenüber stehe. Trotzdem ist dieses "dreckige Dutzend" immer noch die heftigste Dosis, die man sich hier abholen kann. Sie haben zwischenzeitlich den Sänger gewechselt (wie auch zwei / drei Positionen im Bandoneon- und Geigenregister); nun singt eine echte Rock-Lady.
Hatte ich den alten Sänger in seinem Habitus mit Tom Waits verglichen, ähnelt diese Frau eher Janis Joplin, nicht zuletzt auch stimmlich, denn offensichtlich war man bemüht eine Dame mit tiefer Stimme zu finden, um nicht alle Stücke transponieren zu müssen. Die "neue", namens Julieta Laso, schafft definitiv eine eigene Atmosphäre, übernimmt aber nicht die Ansagen. Das macht nun der Chef (der Bassist), leider nicht mehr so intensiv wie ehedem der Frontmann. Gerade, weil ich kein Wort verstehe, kann ich in diesen Präsentationsfragen ganz Gestus und Spannung focusieren: jetzt endet auch die Spannung jeweils mit dem Schlußton des Stückes. (Das ist übrigens bei Violentango genauso, und wenn nicht einfach zuviel los wäre, würde ich mit den Violentangeros diesbezüglich gerne mal einen Workshop machen als Ausgleich für ihre Geduld mit meinem tangonomen Unverständnis... ;-)
Auf jeden Fall bleibt das allmittwöchliche Konzert im "Caff" unbedingtes Pflichtprogramm, eigentlich wäre der Besuch an jedem Tag sinnvoll, denn allein die Aura dieser autonom geführten Spielstätte ist einmalig. Vor knapp einem Jahr gab es die Aktion "Wer eine Stuhl mitbringt, bekommt zwei Freikarten"; nun gleicht keine Sitzgelegenheit der anderen. Das gibt es ja auch bei uns, bevorzugt an Kleinkunstspielorten, aber bei uns wirkt das dann auch schnell museal, hier fügt sich das nahtlos in die postmoderne Art Deco Atmosphäre, in der man nie wirklich weiß, ob etwas "noch so ist", oder "wieder so ist".
5. Die Show(s)
Ich bin weit entfernt, Kritiken über "eigene" Konzerte zu schreiben, und da ich dieses Mal tatsächlich schon etwas mehr involviert bin, als nur Gast für ein / zwei Stücke zu sein, kann ich diesbezüglich auch nur auf die Facebook Seite von Violentango verweisen.....
Aus meiner Sicht gibt es aber folgendes zu berichten: Wie schon bekannt war, mietet man sich hier ein Theater (wenn man kann), zahlt horrendes Geld und bekommt dafür.....den Raum. OK, es ist ein Theater, also hängen auch ein paar Lampen rum, den spannenderen Teil der Lightshow-Materials bringen aber Nahuel und sein Bruder an. Jedes Getränk, jedes Sandwich kommt von einer der treuen Fangirls, die fraglos den gesamten Tag mit der Zubereitung zugebracht haben. Die bekommen auch hinterher Geld in die Hand gedrückt, vermutlich aber gerade mal die Einkaufssumme deckend; ansonsten finden die das einfach klasse dazu zu gehören (ich habe die auch alle schon mal hier und da auf einer Party gesehen), und dabei können die noch nicht einmal die Show sehen, zumindest zwei Damen sind beschäftigt, Getränke zu mixen und in der richtigen Temperatur zur Bühne zu tragen - wir reden hier natürlich wieder primär von dieser argentinischen Fernet-Cola-Krankheit.
Die Liste der freiwilligen Helfer geht aber noch weit darüber hinaus: Insgesamt ein gutes Dutzend Leute sind irgendwie beteiligt, als Stagemanager (dringend nötig bei dem Hühnerhaufen von Gastmusikern), Roadies, Filmcrew, Fotograf (durchaus Felix ebenbürtig, siehe Facebook!), ein paar Radio Heinis ohne nähere Funktion und natürlich die beiden Jungens, die die Rauchware bringen....ich denke, das passiert alles auf "lau"-Basis; dann natürlich Ton und Licht. Nahuel als Lichtchef und der Toni (Namen leider vergessen) mit seinen Hiwis werden wohl bezahlt, wahrscheinlich sogar ganz manierlich, aber das, was die abliefern ist dann aber auch sowas von erste Sahne. Ich bin mir sicher, ich habe noch nie unter SO einem Licht gespielt. Letztlich ist Nahuel (der Lichtler) für mich der Gewinner des Abends; daß er die Stücke alle auswendig kennt, größtenteils ja selbst spielen kann, wußte ich schon aus Europa -- hier hat er nun echte Möglichkeiten mit eigenem Material und bekanntem Pult........und das Konzept ist trotzdem enorm zurückhaktend! Er muß gar nicht zeigen, daß er jeden "kick" der Musik kennt, baut Atmosphären über lange Zeiträume, verzichtet während des Auftritts des Kammerorchesters gänzlich auf Farben, --- man fühlt sich einfach wohl, wird beim Spielen inspiriert.... ich kann es kaum erwarten, das ganze auf Video zu sehen, denn was ich mitbekomme ist ja "nur" Bühne oder daneben, also gar nicht das wirkliche Bild....
Ähnlich dann am nächsten Tag in Mare Del Plata: Nahuel kann hier seine Geimwaffe, die fünf Octobins, nicht mitbringen, dafür hängen hier mehr Lampen - es ist ja auch das größte Musiktheater hier überhaupt. Dafür läßt er aber gleich mal die Hälfte aller Farbfilter entfernen, und ich glaube, von den Photos, die ich hinterher gesehen habe, zeichnen die Schwarz/Weißbilder am besten ab, was da zu sehen war! Die Magie von weißem Licht, so es beherrscht wird, war ja schon beim letzten Buenos Aires Trip eine der eindrücklichsten Erfahrungen....
Musikalisch ist der nächste Tag dann KOMPLETT anders. Das Programm ist fast das gleiche, ich darf ein paar mehr Stücke spielen, da die anderen Gäste fehlen, lediglich das Kammerorchester ist erneut am Start. Die Jungens spielen rein technisch gesehen ja auch die gleichen Töne, schließlich handelt es sich um auskomponierte Musik, aber ---- nun ist es auf einmal ein fast schon intimes Tango Konzert. In Buenos Aires, unter hohem Druck, mit all den Gästen..... das war schon "Big Rockshow Time".
Ein weiterer Lernschritt für mich: Wie sehr Nuancen im Tempo oder in der Haltung den Gesamteindruck bestimmen! Gut, da sagt mir jeder deutsche Klassikspieler "ja, logisch, darum geht´s, das ist doch normal!" -- aber Freunde: Wir reden hier nicht davon, daß Karajan die Fünfte im Oktober 1972 zwei Schläge langsamer nahm, sondern von dem gefühlten Unterschied von Living Colour zu Van Morrison....
Für mich dann noch relevant die persönliche Ansage vor dem Konzert von Juan: Wir gehen da raus und spielen bestimmt auch jede Menge Murks, aber wir tun das zusammen und solange wir uns angucken, spielen wir wenigstens zusammen Murks! Das ist für mich spannend (ich weiß gar nicht, ob er das vielleicht sogar beobachtet hat und bewußt auf mich gemünzt hat?), denn ich habe mir angewöhnt, die Mitmusiker eher selten anzuschauen, wenn es gut läuft. -- Da muß ich zu Hause nochmal drüber nachdenken.
6. Rock´n`Roll
Daß Violentango in Sachen Spielenergie eine lupenreine Rockband sind, ist meinerseits genügend beschrieben; auch sie selbst kokettieren ja beispielsweise mit dem Albumtitel "Rock De Nylon" (wiewohl ihre CDs das nicht vollständig wiedergeben können).
Aber auch im Tourleben wird hier niemand geschont - dazu ein Ausschnitt: Das Konzert am 14. findet nicht etwa nach einer Phase ausgiebiger Entspanntheit statt. In den letzten Tagen hasten wir von einem Radio-Live Broadcast (bevorzugt nachts) zum nächsten Promo-Fernsehauftritt, zwischendurch dauernd Proben mit den verschiedenen beteiligten Parteien (Kammerorchester, Sax-Spieler, Percussionist, Schauspieler), bis dann am Tag selbst auch alles wirklich früh losgeht - und trotzdem Aufbau, Licht, Sound, Proben und letzte Anweisungen gerade fünf Minuten vor Beginn der Vorband fertig werden. Hier dauert einfach alles etwas länger, denn es ist schwierig, den Argentinier zu einer bestimmten Zeit an einen bestimmten Ort zu binden......
Dafür dann dann nach der Show intensive Party, zunächst im Theater, dann im "Matienzo", so eine Art Slow Club in groß. Der Party Ort ist immerhin so gewählt, daß alle etwa gleichweit von zu Hause entfernt sind, denn: Die Party geht mit nur kurzem Duschen und Sachen packen nahtlos morgens um sechs in die etwa sechsstündige Busfahrt nach Mare Del Plata über! Dort liegen zum Glück Hotel, Theater und Strand wirklich nahe beieinander, so daß sich ein Zeitfenster von einer Stunde für einen Strandbesuch auftut. (Länger geht bei der Hitze auch nicht.)
Dann wieder Einrichten, wieder Licht, wieder Soundcheck (mit sehr lustigen zusammengeliehenen Schlagzeugen), wieder Proben (aber etwas weniger, da weniger Gäste), wieder Konzert, wieder Party im Theater, wieder Party woanders, wieder nahtlos bis zur Busabfahrt um sechs Uhr morgens...... Am folgenden Tage merke ich, daß ich demnächst fünfzig werde --- uff, aber bislang schlage ich mich wacker!
Sehr "Rock`n`Roll" auch die "After Show Party" beim Theaterchef. Der hatte wohl am gleichen Tag Geburtstag und lud zu sich nach Hause ein. Ich bemerke in der Gruppe schon sehr geteilte Begeisterung, ob man dieser Einladung nachkommen solle. Es setzt sich die Fraktion durch, die darauf hinweist, daß der Kontakt zu diesem Typen sehr nützlich sein könnte (das ist schließlich "das Piazolla Theater", eines der größten überhaupt. Dementsprechend werden auch noch kurz Verhaltenswaßregeln ausgegeben, die im wesentlichen auf Zurückhaltung bei Essen und Getränken abzielen.
Nun gut, wir kommen also um kurz nach Mitternacht bei diesem Typen zu Hause an, wie gesagt: beim Direktor des möglicherweise größten Musiktheaters. Es erwartet uns Technomusik, eine drei mal vier Meter Leinwand für Playstation (im gewählten Spielmodus gilt es, mit verschiedenen Waffen möglichst viele Passanten zu erledigen). Wir sind nahezu die einzigen Gäste (unvorstellbar um diese Zeit!), der Grill wird mit Strom betrieben, der Hund ist eine Art Chiuahuah, auf dem Board stehen Bilder des Hausherren mit erlegten Walen und so, auf einer Leinwand ist eine Diashow mit Protraits des Jubiliaren, es stehen zwei Klaviere herum, beide verstimmt, das mache aber nichts, erklärt er, er habe nämlich auch ein Keyboard, das funktioniert und angeschlossen ist. Zum Beweis spielt er die ersten vier Akkorde von einem Depeche Mode Stück, und ich glaube, als er Nahuel erklärt, daß man bei ebenjenem Playstation Spiel endlich auch mal Frauen verprügeln könne (wohl als Scherz gedacht), ist dann einfach alles zu spät: Mit den Worten "Es gibt Essen!" löst Juan das Gebot zur Zurückhaltung, die Band betritt geschlossen den Küchentrakt, verzehrt zunächst alles, was offensichtlich für den Geburtstag bereit gestellt wurde, findet dann den Kühlschrank, leert diesen komplett, irgendjemand findet im Keller noch eine Flasche Wein und als die nach weiteren drei Minuten ebenfalls leer ist, verabschieden wir uns höflich, aber zurückhaltend......
Ich möchte zur Wahrung des Rufs anfügen: Die Jungens kommen durchweg aus "gutem Hause", fallen gewöhnlich eher durch Höflichkeit auf. Auch würde nichts gestohlen.
Schade eigentlich, bei so einem wohlstandsverwahrlosten Arschloch.
7. Cachito, der „Engel an der Gitarre“
Nun muß ich mal etwas langatmiger werden, denn dieses Erlebnis ist womöglich das eindrücklichste der ganzen Tour. Nach der erwähnten „Party“ bei dem Wohlstandsverwahrlosten fahren wir also endlich in eine Kneipe. Für diese Kneipe wäre auch keine besondere Eile nötig gewesen, sie öffnet zwischen 12 und 2 Uhr (nachts) und ist dann bis morgens geöffnet. Das „Los Duendes“ in Mare Del Plata ist allein schon mal die Reise von Buenos Aires wert (wie gesagt, im Bus fünf Stunden)! Es ist einer der seltenen Orte, an dem ich so etwas wie Kneipenkultur in unserem Sinne erkennen kann – ich fühle mich spontan wohl. Teil dessen ist wohl auch, daß die Kneipe von einer ca. 70jährigen Mama und ihrer kaum jüngeren Thekenhilfe mit fester Hand geführt wird. Das Kernpublikum ist ähnlichen Alters und diese Verbindung Mama / Publikum besteht offenkundig seit Jahrzehnten. Die Damen haben sich aufgetakelt, als gälte es, den letzten großen Fang zu machen, die Typen versuchen nicht minder, das ein oder andere Lebensjahrzehnt durch ernsthubertyeskes Überkämmen zu vertuschen. Dazwischen eine ca. Mittdreißigerin asiatischer Herkunft, die sich durch überkandidelte Kommentare und übertriebenes Mitsingen (siehe später), sowie verzweifelt anmutenden Sexappeal versucht, in diese Boheme einzukaufen. Diese allenthalben bekannte Sorte geht mir normalerweise unglaublich auf den Sack, aber hier stört es kaum – so grundsolide sind die Protagonisten dieses Kneipenschauspiels, nicht zuletzt hat sie auch nicht den Hauch einer Chance gegenüber der Ausstrahlung der „Fregatten“, die durchweg ihre Großmütter sein könnten.
Zu dieser Kernbesetzung gesellen sich nun aus gutem Grunde durchreisende Musiker aus verschiedensten Regionen des Landes und leider auch Horden von Anfangszwanzigern, die den Platz wahrscheinlich „hip“ finden, vor allem aber die Öffnungszeiten schätzen und für das eigentliche Schauspiel wenig Augen und Ohren haben. Insbesondere am Wochenende (leider sind wir an einem Samstag da), sorgen gerade die für einen Geräuschpegel ähnlich dem unserer Irish Pubs. Für mich gilt es also, mich im Lauf der Nacht Stuhl für Stuhl näher an das unglaubliche Geschehen direkt neben der Eingangstür vorzuarbeiten, damit ich wenigstens eine Idee bekomme, was da passiert! Es spielen Cachito (Gitarre, Nylon versteht sich!) und sein Partner (Gitarre und Gesang); und zwar akustisch; in dem Tumult. Sagen wir genauer: Der Sänger ist eine Art „Host“ des Abends, er singt dann, wenn niemand anderes dran ist, Cachito begleitet ansonsten jeden der singen will. Das sind im Laufe so einer Nacht viele...... Zunächst aber noch zurück zu den beiden:
Der „Host“ ist ein wirklich ergreifender Sänger, er bringt mir seine Songs nahe, weil er offensichtlich den Humor und das verschmitzte im Tango herauskitzelt, was auch bei manchem Argentinischen Tangostar gerne mal im Pathos ertrinkt. Auch zwischen den Stücken hält er mich bei der Stange (wiewohl ich natürlich wieder nichts verstehe), hier zeigt er sich völlig privat und ich glaube ihm wirklich, daß ich in seinem Wohnzimmer sitze. (Hier ist mal einer, der es kann – siehe oben). Das ist übrigens auch dringend nötig, denn die beiden Herren spielen auf Spendenbasis, die nicht wie bei uns zentral gesammelt wird, sondern im Laufe der Nacht je nach Laune von den Tischen nach vorne gereicht wird. (Von mir geschätztes Gesamtvolumen dieses Hutes: ca. 40 Euro im Laufe der Nacht......) Dieser Mann reiht sich altersmäßig mitten in die Fregatten und die Überkämmer und sein Kumpane wirkt etwas jünger (64, wie ich später recherchiere): Cachito, der Engel an der Gitarre!
Von dem haben mir die Jungens vorher schon ehrfurchtsvoll erzählt – und nun sitzt er da. Etwas verhutzelt erinnert er mich in der Statur an den mittelspäten Chet Baker, aber er hat glänzende, wache Augen; er lächelt selten, wenn, dann wohl über eine neue Linie oder Verzierung, die ihm gerade in den Sinn gekommen ist. Er redet so gut wie gar nicht, lediglich die Gastsänger nennen ihm das Stück, das sie singen möchten, aber nicht etwa als Frage – es scheint selbstverständlich, dass er das Stück kennt, sei es Tango oder argentinische Folklore oder Flamenco. Und dann spielt „der Engel“, wie sie ihn nennen: So etwas geschmackvolles, souveränes, virtuoses (aber immer „beneath the song“) habe ich zumindest aus der Nähe überhaupt noch nicht erlebt! Dieser Typ spielt „Fill Ins“ (wobei das hier anders heißt und anders gemeint ist), die immer in der Mitte eines Taktes aus dem Nichts auftauchen und auch immer etwas über den Taktbeginn lappen. Trotzdem stellt er das komplette Harmoniegerüst des Stückes dar, schließlich begleitet er Sänger, nichts daran ist also solistisch. Das ist musikalisch ebenso geheimnisvoll, wie die Bewegungen seiner Hände magisch. Die Finger seiner linken sind komplett unabhängig beweglich (ich glaube, manche Konzertpianisten ließen sich eine Sehne durchtrennen, um Ring- und Mittelfinger unabhängig zu machen, bei einem Gitarristen habe ich das noch nicht gesehen, --- ist im Falle Cachitos wohl auch naturgegeben), und mit der rechten spielt er diese Kombination aus Plektrum und Fingerpicking Technik, die auch den härtesten Plektrumverachter (z.B. Juan!) verstummen lässt. Am Ende eines Stückes beginnt hier das Publikum mit dem letzten gesungenen Ton heftigst zu applaudieren, obwohl in der Regel noch ein oder zwei Schlussakkorde folgen. Mich stört das ja extrem, aber Cachito scheint diesen Moment der fast völligen Unhörbarkeit zu genießen: Er versieht jedes Stück mit einer Schlußkadenz, die sich gewaschen hat! Das sind wohl auch die Momente, in denen er heftigst experimentiert und sich selbst überrascht, so kommt es hier auch des öfteren zu einem Lächeln, das sich dann elegant mit dem Applaus für den Sänger mischt. Von diesem Typen hat in Argentinien schon fast jeder Musiker gehört, und auch hier scheint man (incl. ihm selbst) zu wissen, welchen Schatz man da besitzt, aber irgendwie ist es auch normal, denn er spielt hier im „Los Duendes“ jeden Abend. Und zwar nur hier. Und zwar immer bis sechs Uhr früh. Und zwar jeden Tag der Woche. Und zwar seit mindestens 25 Jahren!
Ich bekomme hier noch das ein oder andere Schmankerl über ihn erzählt, aber die klingen alle so unwahrscheinlich, daß ich mich –zurück in Buenos Aires- in den nächsten Tagen daran mache, etwas über diesen Mann herauszufinden. Das ist nicht leicht, denn er ist nicht wirklich breit aufgestellt im Internet (passt ja auch zu seiner Haltung)....dann findet Nahuel zum Glück ein seriöses Interview und übersetzt für mich: Der Typ hat mit vier begonnen Gitarre zu spielen, ist dann in den 60er Jahren im Alter von 12 nach Buenos Aires gegangen, um dort als Berufsmusiker umherzuziehen. Mit 15 dann ein klassisches Gitarrenstudium (mit 17 abgeschlossen). Danach dann einige Konzerte mit zeitgenössischer Musik, und in den 70ern spielte er wohl auch in zwei namhaften Tangobands. Trotzdem hat er das alles drangegeben und ist zurück nach Mare Del Plata eben ins „Los Duendes“ und seither spielt er auch nicht mehr woanders. Die letzte spektakuläre Aktion davor war wohl Ende der 80er, als er im Radio live 37 Stunden lang nonstop etwa 40 verschieden Sänger begleitete...... Über seine Entscheidung, sich ins „Duendes“ zurückzuziehen, sagt er, es sei spannender, nicht professionelle Sänger zu begleiten, da es eine größere Herausforderung darstelle, diese gut klingen zu lassen. Gefragt, wer denn sein Gitarrenliebling sei, sagt er: Paco. Mein Gott, ich weiß nicht, ob die sich je begegnet sind, aber ich möchte meinen: Hätte Paco De Lucia diesen Mann Gitarre spielen gehört, hätte er sich vermutlich erst mal zwei Wochen krank ins Bett gelegt (wie weiland Oscar Peterson, als er zum ersten Mal Art Tatum spielen hörte...). Das „Los Duendes“ ist also schon die Reise von der Hauptstadt nach Mare Del Plata wert; Cachito ist den Flug nach Argentinien wert! Ich habe das gute Gefühl, den Mann noch mal zu sehen......und das geht eben nur im „Los Duendes“....... ;-)
8. Belo Horizonte
Seit dem letzten Sommer ist diese drei Millionen Stadt ja gewissermaßen "historisch". Kurz flackerte es in mir auf, bei der Einreise nach Brasilien auf dem Formular als Zweck der Reise "Fußball Lehre" anzugeben, aber das hätte womöglich den Fortgang der Tour gefährdet. Stattdessen hatte ich dann immerhin schon öfter in verschiedenen Cachaca Bars folgendes Gespräch mit Fremden: "Where do You come from?" "Sorry, I can´t tell." "Naaah, come on! Where do you come from?" "Well, I come from seven one...."
Das hat bislang immer zu Heiterkeit geführt, man muß sich seine Gegenüber aber auch vorher genau ansehen, sonst wird´s brennzlig.
Der Brasilianer hat es aber auch sonst fußballerisch nicht leicht: Die Spiele der ersten Liga finden allesamt nacheinander statt von Freitag Abend bis Sonntag spät in die Nacht fast durchgängig, der Rest der Woche ist angefüllt mit Südamerika Cup und anderen kleineren Scharmützeln. In Brasilien spielt man zwei Saisons pro Jahr ohne Spielpause dazwischen (in Argentinien ist es nur eine, dafür aber mit 30 Teams!). Der echte Fan beobachtet aber auch das Spielgeschehen in den Nachbarländern, zumindest die Topteams, die ja demnächst Rivalen im Südamerika Cup sein könnten, ......und dann natürlich die Legionäre! In der gesamten brasilianischen und argentinischen Lga zusammen gibt es gerade mal einen Nationalspieler (der Torwart von "River" ist dritter (!) Torhüter der Nationalmannschaft), alle anderen spielen in Europa. Dementsprechend kennt hier fast jeder alle Topteams aus den europäischen Ligen.
Das ist auch naheliegend, denn fußballerisch wird hier im eigenen Land doch eher im Trüben gefischt; der argentinische Fußball wird noch durch extrem unfaire Härte ergänzt, das ist kein Vergnügen, so Spiele zu sehen, selbst die klangvollen Namen "River" gegen "Boca".
Trotzdem: Fußball Nonstop! Nicht verwunderlich, daß hier manches "weniger wichtige" einfach nicht erledigt werden kann..... ;-)
Dem Einwohner von Belo Horizonte ist absonsten noch hoch anzurechnen, daß etwa dreihundert von ihnen den Weg zu unserem Konzert in das prunkvolle Cinethetro Brasil finden, obwohl am gleichen Tag eines der beiden lokalen Teams vorzeitig die Meisterschaft erringt! ....Die Dreimillionenstadt ist völlig aus dem Häuschen!
9. Brasilien: Ein paar ungeordnete Reisetipps
- Kaffee: Der Brasilianer verfügt, wie wir auch von exclusiven Importen kennen, über wirklich gute Kaffeebohnen. Leider ist er im eigenen Land weitgehend bemüht, den Geschmack unkenntlich zu machen, indem er das Kaffeepulver in jene chlorgestärkten Filtertüten schüttet, die wir allenfalls aus früherer Kindheit kennen. Zudem schüttet er auch nicht besonders viel Pulver hinein, und, sofern er Leitungswasser, welches eher flüssigem Chlor ähnelt, zur Zubereitung verwendet, kommt ein Gebräu heraus, daß unsere Eltern in die Kategorie Muckefuck geordnet hätten. Auf privater Ebene ist diesem Getränk aus Höflichkeit nicht zu entgehen, im Kneipenbereich empfiehlt sich eine genaue Prüfung der installierten Maschine: Selbst vertrauenerweckende, chromblitzende Kaffeeautomaten haben im inneren gerne diese geschmacksverhindernden Filter. Es ist empfohlen, erst eine fremde Kaffeebestellung abzuwarten, die Zubereitung zu beobachten, und nur wenn diese eindeutig nach Espressomaßstäben erfolgt, kann zu einer Bestellung geraten werden. Selbst dann ist noch darauf zu achten, je nach Sprachkenntnis auch mit Gebärden klar zu machen, dass genau diese Art gewünscht sei. (Meist wird sogar in diesen Cafes zweigleisig gebrüht...)
- Sprache: Apropos Sprachkenntnis, bei mir ist ja nun völlig Ebbe. Die paar Brocken spanisch, die sich in der Argentinien Zeit und im Umgang mit den Jungens angesammelt haben, sind hier nun völlig nutzlos. Der Brasilianer versteht schon auch spanisch, aber kein radegebrochenes. Kommt noch hinzu, dass auch meine Jungens hier nun anfangen, „Portugniol“ zu sprechen, was zweifelsohne in 20 Jahren Weltsprache sein wird, für mich aber gar nicht mehr zu durchschauen, weil es nicht mal mehr nach romanischer Sprache klingt. Dazu kommt noch der Tonfall, der bei Frauen extrem sexy klingt, mich aber bei Typen unweigerlich zum Schmunzeln bringt: Die klingen wirklich allesamt wie Beauregard, der Hausmeister der Muppetshow, in seiner deutschen Synchronstimme.... (falls sich noch jemand an den erinnert.) Das war mir bislang nie aufgefallen, da ich das brasilianische sonst nur aus Liedgut kenne, und da ist der Singsang natürlich inhärent. Hier aber wird jedes faktische Gespräch z.B. mit dem Taxifahrer von der Gegenseite mit einer hitverdächtigen Hookline beantwortet!
- Trommler: Südamerika bereisende Schlagzeuger seien gewarnt: Man könnte in Argentinien schnell zu dem Bild kommen, man sei eine große Nummer. (Ich glaube, ich erwähnte an anderer Stelle schon, daß eine Argentinienreise für einen europäischen Schlagzeuger psychologischer Aufbau, für den Gitarristen dagegen eine riskante Prüfung des Selbstwertgefühls ist.). Hier in Brasilien ist es nun umgekehrt: Ich gehe durch die Straßen und wirklich jeder Arbeiter, der ein paar Pappkartons oder sonst was zu schleppen hat, klappert mit den Fingern irgendeine Art von Samba darauf. Das ist dann natürlich auch wieder nicht das, was wir aus dem Fernsehen vom Karneval in Rio kennen, oder was an der Jazz und Rockschule als Sambarhythmus gelehrt wird – das ist vielmehr wieder so ein kleines, eigenes Universum wie der Tango, nur eben geographisch weiter verbreitet, und ich habe nicht den Hauch einer Chance, hier tiefer einzusteigen. Es muß einem nur klar sein, dass in Brasilien flächendeckend ein enormes Bewusstsein für Rhythmus vorherrscht. Echte Schlagzeuge(r) sehe ich kaum, auch ist es gar nicht leicht, hier ein halbwegs brauchbares Set zu leihen, aber wenn bei so einer typischen Session in einer dieser Kneipen die Pandeiro rumgereicht wird, kann jeder darauf solides beisteuern, und wenn das Gerät dann an einen Meister (Ricardo in Belo Horizonte ist mein definitiver Favorit) gereicht wird, erscheint auch die ganze Drumset Bollerei als überflüssig, geradezu blödsinnig, denn so eine Pandeiro wiegt ja gerade mal 500 Gramm.... !
- Sao Paolo: konkurriert mit Mexico und Jakarta um die Nummer eins der größten Städte, aber bei diesen Dimensionen kann ohnehin niemand mehr genaue Zahlen nennen – es werden im Moment wohl ca. 40 Millionen sein, die hier wohnen. (Davon mehr als die Hälfte in reinen Favelas, versteht sich.) Es ist ein verdammtes Drecksloch und jedes noch so tapfere Aufflackern von Eleganz eines Gebäudes wird erdrückt von den unweigerlich angrenzenden Riesenbetonklötzen, die häufig auch nur zur Hälfte bewohnt sind, oder vielleicht zur anderen Hälfte von Leuten mit einer Fensterscheibenphobie. Dafür küre ich die Stadt aber zur Königin des Graffitis! Jeder Mensch ist ein Banksy, vermute ich hier als Beuys inspirierten Wahlspruch, und selbst diese nicht bildhaften, nur „gekritzelten“ Schriftzüge haben hier noch irgendwas anziehendes, oder sind zumindest an Stellen angebracht, die allein für die technisch, akrobatisch geleistete Ausführung Respekt einfordern.
- Schließlich noch....die Frauen. Nun, das ist ein heikles Thema. Ich weiß, dass ich selbst nicht gerade der bestaussehende Gringo bin, den dieses Land je gesehen hat; andererseits wird uns Europäern in Bildern aber auch gerne eine Welt suggeriert, in der es eigentlich nur Damen á là Girl from Ipanema (übrigens real existierend), oder ähnlich der brasilianischen Damen Volleyball Nationalmannschaft zu bestaunen gibt. Diese Verklärung unsererseits, scheint wiederum dem Brasilianer so zu Kopf gestiegen, daß er mich fortwährend fragt, wie mir die Frauen gefallen..... Je nach Aufenthaltsort schießen mir sofort einige Antworten in den Kopf: Am einfachsten wäre die Gegenfrage „Wie gefallen sie Dir denn?“, am Strand von Copacabana möchte ich weise antworten „Der Stringtanga eignet sich nicht zur allgemeinen Mode.“ In Belo Horizonte bin ich geneigt, von „Ausstrahlung“ zu predigen, die etwas weiter geht als diese hochhackigen Pornosandalen und eimerweise Gallertmasse über und unter der Haut. Aber ich wähle den höflichen Weg, elegant gewunden mit geringem Lügenanteil. Tatsächlich aber: die durchschnittliche Größe des weiblichen Hinterteils entspricht etwa vier schwedischen Gegenstücken, oder im Vergleich vielleicht noch dras-, bzw. plastischer: 85% einer midwest Amerikanerin. Vielleicht ist das eine Altersfrage, ich bin hier natürlich vor allem mit der beträchtlichen Fangemeinde von Violentango konfrontiert, und das sind wirklich junge Menschen! – Eine gutaussehende Frau über 40 habe ich bislang allerdings noch nicht wirklich kennengelernt. Aber selbst für die prozentual wenigen Mittzwanzigerinnen, die noch ganz gut im Leim sind, prognostiziere ich schlimmes. Das klingt sicherlich ernüchternd – ist es auch, wenn man mit all diesen Vorurteilen im Gepäck kommt --, kommt mir aber gut zu Paß: Ein Monat Tour ohne Bella....da hatte ich schon etwas Bammel vor allzu großem erotischen Reizterror – man weiß ja auch gar nicht so genau, was alles hier übertragen wird.... – aber anstelle des „großen Bombardements“ (wie der Astronom es nennt) zündet Brasilien doch nur hier und da mal einen Böller, mal ein Nonnenfürzle (wie der schwäbische Fastnachtsfeuerwerker es nennt). So ist, wie natürlich auch alles andere, meine persönliche Sicht; aber ich vermute, daß so manch anderer Bericht diesbezüglich Wunsch und Realität vertauscht. -- Muß ja auch mal gesagt sein.
- und noch - quasi Nachtrag, aber mal nützlich für potentielle Brasilien Reisende: die Kleidung.
Wanderer, kommst Du nach Brasilien im Sommer, vergiß nicht, warme Klamotten mitzunehmen! Im Hochsommer ist das Thermometer natürlich regelmäßig über 40 Grad. Draußen. Innerhalb geschlossener Räume (insbesondere in diesen Überlandbussen, und da ist man besonders hilflos ausgesetzt) bemüht man sich hier durchgängig, vermittels Klimaanlage eine Umgebung zu schaffen, die die Haltung von Pinguinen als völlig artgerecht durchgehen läßt. Selbst der Beduine kennt diese Temperaturunterschiede ja nur im Wechsel von Tag und Nacht, hier erlebt man diesen Wechsel nun zwangsläufig 10 bis 15 Mal pro Tag. So wandele ich also seit zwei Wochen mit ausgewachsenem Schnupfen, samt verrotzter Nebenhöhlen durch diese subtropischen Breiten, wie auch meine Bandkollegen und wenn ich nachts mal aufwache in unseren durchweg gemeinschaftlichen Schlafstätten, erlebe ich ein "Konzert" der besonderen Art. Das klingt nicht mal mehr nach Schnarchen, das ist eher Todeskampf....
10. Barceluna, Abspann und sentimentales Gesülze
Bis vorgestern noch inmitten von Kakalaken hausend, nun auf einmal im Sterne Hotel mit eigenem Zimmer....das ist schon ein Erlebnis. Aber es fühlt sich fast langweilig an; eigentlich will ich mit den Jungens zusammen hausen, will diese einfache Lebensart, die tourmäßige, ungesunde, unregelmäßige Ernährung, ich will sogar das Schlafdefizit -- will all die Sachen, die eben "anders" sind, dabei aber so zusammenschweißen!
Natürlich dräut auch zusehends der Abschied. Gestern der "große" Job für HP (wo wir praktisch aus dem Stand zwei ganz bemerkenswerte Nummern mit Trespace und Sarah Lett hingezimmert haben), heute Abend in einem ziemlich großen Laden in Barcelona für mich das letzte Konzert mit den Tangeros (für dieses Jahr!). Und da ich nicht besonders gelenkig im Dank Sagen und Verabschieden bin, nehme ich mir nun mal schriftlich die Freiheit, meinen Text zu den wichtigsten Personen der letzten Wochen aufzuschreiben, auch wenn das nun nicht mehr wirklich spannend für unbeteiligte ist. Andererseits werden die erwähnten Personen das vermutlich nicht lesen, ...wie auch: So ist dieser letzte Artikel eher eine tagebuchartige Sentimentalität meinerseits - es sei mir bitte verziehen.
Die Hauptfiguren dieser Reise
Juan Manuel Lopez (Gitarrist): Der erste Violentangero, den ich kennengelernt habe damals in Ferrara, bei ihm habe ich die meiste Zeit gewohnt und mit ihm habe ich wohl am meisten geplaudert, auch über nicht musikalisches. Das war ein enormer Gewinn für mich, denn trotz seiner "Mitte dreißig" ist er ein enorm lebenserfahrener Zeitgenosse, in perfekter Balance mit sich und der Welt. Ich glaube, ihm würde ich alle meine Sorgen anvertrauen, wenn wir etwas näher zusammen wohnen würden.....
Santiago Cordoba (Percussionist): Natürlich haben wir musikalisch am meisten, bzw. am engsten miteinander zu tun gehabt; wie gern denke ich an unsere Trommelduos (auch an das in Vicosa, obwohl es ziemlich beschissen war! ;-) Gerade in diesen Situationen, für Santi ja eher ungewohnt, weil improvisiert, habe ich seine Geradlinigkeit, seine musikalische Aufrichtigkeit bewundert! Die "Hingabe" ist eine Qualität aller Violentangeros, aber bei Santi ist sie einfach überwältigend! Natürlich sehe ich auch etwas von mir selbst (also dem jungen Schroeder) in ihm, aber ich sehe noch viel, viel mehr......
Adrian Ruggiero (Bandoneon): Ich denke, der am meisten der Tradition verbundene Tangero der Band; dementsprechend muß ich Adrian am meisten danken für die Geduld und Langmut mit mir. So manche Situation verwässere ich gehörig, das weiß ich, aber er hat mich trotzdem wie einen "echten" behandelt. Hier und da einen guten Tipp, nie Genörgel......und das, obwohl sie untereinander echt streng sind (wenn´s um die Musik geht). Wir haben in Belo Horizonte angefangen, etwas über die Aussichten und Möglichkeiten von Violentango zu reden; das würde ich noch soooo gerne weiterführen, ich glaube, wir könnten uns noch einen ganzen Haufen Ideen und Konzepte an den Kopf werfen.
Ricardo Jusid (Bass): In Ermangelung meiner Spanisch - Kenntnisse haben wir eine ganz eigene Kommunikation gebastelt, an der ich die ganze Zeit Freude hatte. Abgesehen davon hat Rickie eine unglaubliche Grazie und zwar generell, nicht nur mit dem Bass in der Hand. So was habe ich, glaube ich, noch nie über einen Typen geschrieben, und es kommt mir auch ganz komisch vor, aber es ist tatsächlich der richtige Begriff...vielleicht noch treffender in englisch "grace" -- oops, da sind wir ja schon bei Jeff Buckley, irgendwie paßt das zu Rickie!
Camillo Cordoba (Gitarrist): Der Gentleman und Womanizer der Band (sorry, ich würde Rickie heiraten... ;-) ; Cami kenne ich ja ein paar Jahre weniger, auch ist er sicher der eher zurückhaltende in der Band, aber diese Canneloni-Tour hat auch uns zusammengeschweißt. Vielleicht ist es "nur" die Art, vielleicht ist er wirklich der strukturierteste (das ist eine Eigenschaft, die ich sehr zu schätzrn weiß); auf jeden Fall glaube ich, mit Cami könnte ich noch viel entdecken innerhalb der Musik und im künstlerisch angrenzenden. Irgendwie müssen wir tatsächlich mal so eine transatlantische Cooperation an den Start bringen!
Nahuel Merlan (Elekrolurch): Leider nicht dabei in Brasilien, aber die Buenos Aires Zeit mit Nahuel: --- unbeschreiblich. Eigentlich gibt es zwischen uns nicht viel übereinstimmendes, aber trotzdem scheinen wir "soulmates" zu sein. Das lappt nun schon ins esoterische, aber besser weiß ich es nicht zu benennen. Ich kann kaum unseren nächsten gemeinsamen Litfass Besuch erwarten.
Freundinnen und Familien der Buben (zu viele, um sie einzeln aufzuzählen): Als wir von Brasilien aus den kurzen Zwischenstopp in Buenos Aires hatten, kam es mir wirklich vor wie nach Hause Kommen; das liegt nicht zuletzt an all denen, die mich behandelt haben, als wäre ich schon immer ein Belgranito gewesen.....
Stefan Schönfeld (Event manager): Natürlich wäre ich auch ohne sein Zutun nach Argentinien geflogen, aber seine Chutzpe, die Jungens für HP nach Barcelona zu buchen, hat der ganzen Sache nun auch noch wirtschaftlich einen Schliff gegeben, der die Tour ungemein abrundet. Das ist ja rechnerisch nur eine von zig Situationen, wie der Schönfeldrige mein Leben in der Bahn hält, nur daß diese für mich eben so besonders war. Leider habe ich noch gar keinen Plan, wie ich das wenigstens ansatzweise zurückgeben kann......
Sarah Lett & Duo Trespace (Artisten): Die haben sich quasi blind darauf eingelassen, ihre Performance bei HP mit Violentango live zu unterlegen. Das ist ohne nennenswerte Probezeit wirklich riskant (hat aber zum Glück bestens funktioniert), aber damit haben sie uns noch mal eine ganz andere Erfahrung ermöglicht. Schön vor allem für mich, weil ich nun beim Artisten Begleiten auch endlich mal was zu melden hatte: Mein Rumwerkeln und Schnipseln in zwei Stücken der Jungens, hatten die zunächst ja sehr argwöhnisch angenommen, dann aber, als sich die Arrangements mit den Artisten verwirklichten, waren auch die Tangeros angetan. Eine ganze Show mit Violentango als Band und Artisten dieser Kragenweite wäre ein unbedingter Traum!
Ein Monat. 15 Konzerte. Tausende von Kilometern (Flüge nicht eingerechnet!), usw. -- so wäre die technische Zusammenfassung, meine Erkenntnis ist aber: Ich habe weder quantitativ, noch qualitativ mehr Freunde in Freiburg, als in Buenos Aires!
Salut.